Wo immer man auf andere Menschen trifft, gibt es Grund, sich zu ärgern. Das klingt etwas übertrieben. Wer schon einmal hundsalleine in der Mitte einer Wüste irrte, wird sich gefreut haben über den Anblick eines plötzlich auftauchenden Menschen.
Zumindest bis er ihm gegenüber stand.
Aber das sind müßige Gedanken in einer Welt voller Supermärkte, Bahnsteige und Straßenfeste.
Wer will behaupten, dass er noch nie einen verstohlenen Kampf um den Platz an der Supermarktkasse ausgetragen hat oder am Bahnsteig sich gestört sah durch gepäckbeladene Unholde mit fahrlässigem Körpergefühl?
Manche gehen zu Straßenfesten nur, um hinterher zu erzählen, wie voll es war und dass es immer schlimmer wird. Voll schlimm.
Ich gehe oft und gerne in Cafés um zu lesen.
Dabei bin sich sehr geräuschempfindlich. Wenn sich jemand am Nachbartisch den Kopf kratzt, schrecke ich ob des dabei entstehenden Geräusches hoch und schaue verärgert hinüber.
Auch sollte man sich in meiner Gegenwart weder allzu laut unterhalten noch flüstern – bitte sehr, das Zischeln enerviert ganz gewaltig.
Eine Melange aus unaufgeregten, leicht melodiösen Stimmen in mittleren Tonlagen und Café-üblichen Klängen, ein umfassendes Hintergrundrauschen, aus welchem einzelne Bedeutungen nicht mehr zu hören sind, wäre meiner Konzentration sehr zuträglich.
Leider ist mir das Glück einer solchen Atmosphäre selten beschieden.
Statt dessen:
„Mit mir kann man verünftig reden“
Sagt zum wiederholten Male ein höchstens 25 jähriger Schnösel mit pubertärer Stimme.
Ich versuche, zu ignorieren und mich in mein Buch zu versenken. Allein, es mag mir nicht gelingen. Zu aufdringlich ist die Stimme des Schnösels, zu laut und zu penetrant der Tonfall.
So höre ich, dass er kein Problem damit habe – und jetzt will ich auch wissen, mit was er verdammt nochmal kein Problem hat. Denn Schnösel klingt nach einer ganzen Freud'schen Couchgarnitur voller Probleme.
„Da steh’ ich drüber“
Es geht um Streit im Büro. Das kennen wir alle: unangenehme Kollegen, vertrackte Situationen, Meinungsverschiedenheiten, Konkurrenz, Interessenkonflikte und was es sonst noch so alles gibt.
Aber, Originalton Schnösel:
„Da steh’ ich drüber“ (er wiederholt seine Lieblingsphrasen ungeniert)
Das sei er gewohnt. In der Schule wurde er schon immer gehänselt.
Ich klappe mein Buch endgültig zu und schaue hinüber. Er trägt ein dezent gestreiftes Hemd, dass nach Karriereplanung ausschaut und hat scheitel-gegeltes kurzes schwarzes Haar. Vor ihm ein gewaltiges Stück Kuchen und ihm gegenüber ein blasser junger Mann mit Dreitagebart und krummen Rücken.
Ich ahne, dass der Kuchen nicht gegessen sein wird, bevor nicht die ganze Lebensgeschichte erzählt ist. Und der Widerstand seines Gesprächspartners scheint längst gebrochen zu sein.
„Ich hab ein fotografisches Gedächtnis“
Aha, denke ich mir und erfahre, dass er in der Schule an einem Abend gelernt hat, wofür andere mindestens drei Tage brauchten.
„Aha“, sagt jetzt sein Gegenüber, „hast du Abitur?“
„Realschule“, sagt Schnösel, aber „fotografisches Gedächtnis“ – schon immer, deswegen konnten ihn die anderen nicht leiden.
Aber da stehe er drüber und wenn der eine Kollege jetzt ein Problem habe, solle er ihn persönlich ansprechen. Schließlich könne man mit ihm vernünftig reden.
Bevor ich darüber sinnieren kann, was er unter vernünftig versteht und ob er auch dabei Monologe halten würde, wendet er plötzlich den Kopf und sieht mich an.
Wahrscheinlich habe ich geglotzt. Einmal sah ich ein böse schauendes Gesicht mit zusammengezogenen Augenbrauen in der S-Bahn und erschrak, als mir klar wurde, dass dies mein Spiegelbild im Plexiglas ist.
Ich nehme an, auch jetzt zeigte mein Gesichtsausdruck Missfallen und, wenn Gott will, eine Spur Verachtung.
Schnösel schiebt sich ein Stück Kuchen in den Mund und während er kaut, schaut er noch einmal rüber.
Lese ich in seinen Augen Unsicherheit? Verachtung? Interesse?
Nein, gar nichts entdecke ich da. Die Augen blicken so selbstbezogen wie seine Phrasen tönen.
Vielleicht dachte er, was ist denn das für ein Depp, hockt im Café, hat ein Buch dabei und liest nicht – oder: kommt alleine mit Buch ins Café, so ein komischer Kauz – oder einfach nur: Was glotzt der mich so an?
Aber wahrscheinlich dachte er einfach an sich und seine Welt und was es dazu noch alles zu erzählen gäbe.
Er wendet sich dem Kerl mit dem krummen Rücken zu und nimmt seinen monotonen Monolog wieder auf.
Wenn die Kollegen das so machen würden, wie er es gesagt hat, ginge es viel schneller. Aber die seien neidisch und redeten hintenrum über ihn.
Mir vergeht das Verlangen, ihm ordentlich unvernünftig das Gesicht in den Kuchen zu drücken und dabei „Schnauze!“ zu brüllen –
Ich zahle und räume das Feld, und falls ich ihn jemals im Supermarkt sehe, werde ich nicht versuchen, an der Kasse schneller zu sein, sondern so lange meinen Wagen durch den Laden lenken, bis ich sicher bin, er ist weg.
Soviel Zeit muss sein.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen